DER LEERE ARCHETYP
AUF DER SUCHE NACH JUNGS MYSTIKERN
Prof. Dr. Amador Vega, Barcelona
Referat anlässlich der 90-Jahre-Jubiläumsfeier der Psychologischen Gesellschaft Basel am 22. September 2023, Basel
1. Die Geburt der Seele durch die künstlerische Praxis: Vorüberlegungen.
Es gibt Kunstwerke, vor denen wir uns einfach machtlos und verlassen fühlen. Je länger wir sie betrachten, desto verwirrter werden wir. Ihre offensichtliche Unkommunizierbarkeit und Undurchsichtigkeit stellen nicht nur unsere Fähigkeit in Frage, uns dem Rätsel zu nähern, das sie uns anregen könnten, sondern erschüttern uns auch emotional zutiefst. Ohnmacht und Ratlosigkeit, die wir empfinden, sind jedoch nicht so sehr auf eine Wirkung unserer emotionalen oder psychischen Natur zurückzuführen als vielmehr auf den hermeneutischen Widerstand, den Werke wie die ausgestellten leisten. Es handelt sich um Gemälde, die sich dem unmittelbaren Blick entziehen, und auch wenn sie einen prüfenden Geist durcheinander zu bringen vermögen, vermeiden sie irgendeine Bedeutung zu vermitteln.
Abbildung 2: Rothko Chapel, University of St. Thomas, Houston (1971)
Mark Rothko (1903-1970), der Künstler, der die Kapelle (Abb.2) entworfen hatte, die seinen Namen trägt – und von der wir hier ein Detail des Innenraums sehen - hat einmal gesagt : „Menschen, die vor meinen Bildern weinen, haben die gleiche religiöse Erfahrung, die ich hatte, als ich sie malte[1].“ Wenn ich eine solche Aussage lese, frage ich mich sofort, was der Künstler mit religiöser Erfahrung meint, denn es scheint nicht sinnvoll zu sein, zuzugeben, dass es sich um die gleiche Art von Emotion handelt, die ein Gläubiger im mittelalterlichen Europa vor einer «imago pietatis» gehabt haben könnte (Abb.3). Was die mittelalterliche Frömmigkeit vom Weinen in der säkularisierten Moderne trennt, ist zweifellos auf unterschiedliche historische, soziale und kulturelle Kontexte und insbesondere auf einen sehr unterschiedlichen Gebrauch der religiösen Sprache zurückzuführen. Aber ist das wirklich der Fall?
Vor vielen Jahren stellte der Kunsthistoriker Robert Rosenblum ein Gemälde von Rothko neben ein anderes des romantischen Malers Caspar David Friedrich („Der Mönch am Meer“: Abb.4), um Ähnlichkeiten in der formalen Struktur der beiden Gemälde hervorzuheben, die er als Folge einer Ähnlichkeit des Gefühls und der Intention verstand[2]. Rosenblums Theorie ist abweichend von der These Erwin Panofskys, wonach es nur eine zufällige Erscheinung oder „Pseudomorphose“ zwischen den Kunstwerken gibt. Wenn wir Rosenblums These als plausibel akzeptieren, könnten wir sagen, dass formale Analogien von Generation zu Generation weitergegeben werden, so dass das Gefühl von Leere und Melancholie, das von den Werken der beiden Künstler ausgeht, die zeitlich durch anderthalb Jahrhunderte getrennt sind, auf eine formale Ähnlichkeit zurückzuführen ist, die auch die Emotionen des unterschiedlichen Publikums, das diese Gemälde zu verschiedenen Zeiten betrachtet, in ähnlicher Weise beeinflusst.
Abbildung 3: Casa Horne, Firenze, XIII Jhr.
Abbildung 4: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808-1810
Daraus folgt, dass das wirklich Bedeutende in der Kunst -und hier erlaube ich mir den Begriff von Kunst über die bildende Kunst hinaus, auf die Poesie, das Theater und den Tanz auszudehnen- nicht das Thema und nicht einmal der Inhalt ist. Es ist offensichtlich, dass in der Zeit zwischen Rothkos Triptychon, Friedrichs Ölgemälde und einem mittelalterlichen Bild, narrative Elemente verloren gegangen sind: Wir sind von einem für die Andachtsmalerei charakteristischen Bild über Friedrichs romantische Malerei – in dem die Figur des Mönchs kaum eine Rolle spielt – zu Rothkos Gemälden gelangt, in denen alle narrativen oder figurativen Elemente verschwunden sind. Aber diese drei Kunstwerke haben durch formale Ähnlichkeiten wie z.B. die Verwendung von Farbe, die Aufteilung der Flächen oder das Fehlen von Rangordnungen denselben emotionalen Páthos: Leere und Abwesenheit.
In der christlichen Ikonographie, vor allem im Westen, sind die Kreuzigung und die Leiden, die die liturgischen Handlungen der Karwoche begleiten, seit Jahrhunderten das zentrale Motiv der Meditation. Vor allem in den katholischen Ländern war und ist das Leiden und Sterben Jesu Christi Gegenstand eines etwas morbiden Kultes, der im Übermaß aus der barocken Kultur entstanden ist. Andererseits ist es erstaunlich, in welchem Maße das außergewöhnliche Ereignis der Auferstehung, das den Kern des christlichen Glaubens ausmacht, von religiösen Künstlern weniger beachtet wurde. Auf der anderen Seite, in der christlichen Praxis, wenn es um Kult geht, ist das Kreuz allgegenwärtig. Anderen Künstlern, wie dem italienischen Dominikaner Fra Angelico, ist es jedoch gelungen, auf brillante Weise das darzustellen, was ich für das Grundmotiv des Christentums halte, das weder in der Kreuzigung noch in der Auferstehung Christi besteht, sondern in der Darstellung des „leeren Grabes“ (Abb.5 und 6): Nach den Erzählungen der Evangelien über das Leiden und Sterben Jesu Christi fanden die Frauen, die Jesus begleitet hatten, am Sonntagmorgen das Grab, in dem er begraben worden war, leer vor (Lk 24, 1-7; Mk 16, 1-8; Joh 20, 1-10). Wir befinden uns am authentischen Tag danach und damit am ersten Tag einer neuen Art religiöser Erfahrung, die auf Abwesenheit und Leere beruht und die auch in der paulinischen kénosis formuliert wird, das heißt in der Inkarnation, die als Selbst-Entleerung der Gottheit verstanden wird (Phil 2,6-11). Zwar hat die christliche Ikonographie die Anwesenheit des Parakleten, der die Gegenwart Gottes nach der Himmelfahrt Jesu Christi symbolisiert, nicht vergessen, aber die Kraft des „leeren Grabes“, nicht nur als künstlerisches Bild, sondern auch als Meditationsmotiv, ist unvergleichlich.
Abbildung 5: Mark Rothko
Abbildung 6: Fra Angelico, San Marco, Firenze, 1438-1443
In der mystischen Theologie der ersten Jahrhunderte des Christentums, insbesondere bei den östlichen Kirchenvätern, finden wir die ersten Formulierungen einer Sprache der Negativität, die durch den so genannten „apophatischen Weg“ (apophatiké) einen Diskurs über die Abwesenheit und Leere Gottes als Symbole des Unsagbaren ermöglichte. Aber die mystische Theologie, auch wenn sie bei einigen Autoren weiterhin latent vorhanden ist, erlebte ihre Blütezeit erst im 14. Jh. Es sei erinnert, dass die scholastische Theologie das ganze 13. Jahrhundert hindurch davon besessen war, eine Methode zu konstruieren, die, ähnlich wie bei der Errichtung einer gotischen Kathedrale, die göttliche Allmacht und die Dogmen der Kirche (die Dreifaltigkeit und Menschwerdung Jesu Christi) rational stützen und rechtfertigen sollte. Tatsache ist, dass bereits zu dieser Zeit das Ansehen dieser Art von Theologie bei den Laiengruppen und nach und nach auch bei den Mönchorden zu schwinden begann und von einer mystischen Theologie verdrängt wurde, die mehr auf die Erfahrung der Liebe Gottes als auf die verständliche Erkenntnis des Logos ausgerichtet war. Auch wenn unter den Vertretern der so genannten „spekulativen Mystik“, deren herausragende Gestalt Meister Eckhart (14. Jahrhundert) war, die rationale Methode der Darstellung weiterhin vorherrschte – dies ist der Fall bei seinen in Latein verfassten Werken, die für den akademischen Unterricht in Paris bestimmt waren - , erforschten dieselben Theologen, zum Teil ermutigt durch die Schriften der spirituellen Frauen, der so genannten Beginnen oder Ordensschwestern, auch die Mysterien des Herzens[3]. Während die scholastische Theologie, die in lateinischer Sprache verfasst war, in einer abstrakten und begrifflichen Perspektive im Rahmen akademischer Studien bewegte, war die volkssprachliche Theologie, die diesen Gruppen von Frauen, die keine akademische Ausbildung erhalten hatten, näher stand, auf die Suche nach einem verlorenen oder abwesenden Objekt ausgerichtet: dem Leib Christi. Die Suche nach diesem «corpus mysticum» ist die Grundlage einer neuen Art von Subjektivität, in der die Sprache der Sehnsucht und des Verlangens die spekulative Sprache ersetzt hat[4]. Diese Bewegung, die das Konzept zugunsten des Körpers zurückdrängt, verläuft parallel zur stärkeren Betonung der Liturgie, die als kulturelle Performance verstanden wird: Von da an, bis zum Beginn der protestantischen Reformation, hat der Körper Vorrang vor der Heiligen Schrift.
2. Imago dei: Carl G. Jung und die mystische Literatur
Abbildung 7: Bill Viola, Emergence, 2002
Die Tatsache, dass diese am Ende des europäischen Spätmittelalters so weit verbreiteten Formen der Spiritualität nicht von der Erfahrung der Fülle, sondern von der Abwesenheit und Leere Gottes getragen wurden, gibt uns nicht nur eine Vorstellung von der Mystik, die als „elementare Gegenbewegung“[5] der sozialen Psyche dieser Zeit verstanden wurde, sondern lässt auch einige der Neuerungen der Moderne erahnen, die mit der protestantischen Reformation und später, als eine ihrer Folgen, mit dem modernen Nihilismus kommen sollten. Bevor ich jedoch weitere Schlussfolgerungen zu diesem Thema ziehe, möchte ich mich kurz CGJs Lektüre einiger dieser Mystiker nähern, die meines Erachtens einen nicht geringen Platz in seinem gesamten Denken einnehmen.
In einem Kapitel von Psychologischen Typen (1929) mit dem Titel: “Die Relativität des Gottesbegriffs bei Meister Eckhart“, finden wir die Schlüssel, um das Problem des mystischen Denkens aus psychologischer Sicht anzugehen. Was den Leser in diesem Kapitel überrascht, ist der Platz, den es im Buch in seiner Gesamtheit einnimmt. Tatsächlich behandelt Jung die psychologische Dimension von Eckharts Denken in einem Abschnitt mit dem Titel: „Das Typenproblem in der Dichtkunst“: „So wie im Rittertum sich Anzeichen einer neuen Orientierung bemerkbar machten, so treten uns neue Gedanken innerhalb der Kirche in ECKHART entgegen, Gedanken von derselben seelischen Orientierung, welche DANTE bewog, dem Bildnis Beatricens in die Unterwelt des Unbewussten zu folgen, und die Sänger inspirierte, welche die Kunde vom Gral sangen“[6]. Sowohl Dante als auch Eckhart sind mehr oder weniger Zeitgenossen. Alle zwei schrieben sowohl auf Latein als auch in der Muttersprache und waren in ihren jeweiligen Volkssprachen Schöpfer der Sprache , was eng mit dem Phänomen der mittelalterlichen Mystik verbunden ist. Diese aufkommende Spiritualität brauchte nämlich eine neue Sprache für eine neue Art von Erfahrung und für eine neue Weise der Wahrnehmung des Heiligen, für die die Sprache und die Mechanik der scholastischen Theologie nicht geeignet waren. In diesen Denkern schlägt die platonische poiesis, die schöpferische Kraft des Geistes, genau das, was Jung dazu bringt die deutschen Predigten von Meister Eckhart zu untersuchen.
Um eine Vorstellung von der herausragenden Stellung der Figur Eckharts in Jungs Werk zu bekommen, genügt es, sich vorerst mit dem Titel des Kapitels zu befassen. Jung sagt:„Unter „Relativität Gottes“ verstehe ich eine Ansicht, nach der Gott nicht „absolut“, das heißt losgelöst vom menschlichen Subjekt und jenseits aller menschlichen Bedingungen existiert, sondern nach der er vom menschlichen Subjekt in gewissem Sinne abhängt, und eine wechselseitige und unerläßliche Beziehung zwischen Mensch und Gott vorhanden ist, so daß man einerseits den Menschen als eine Funktion Gottes und anderseits Gott als eine Funktion des Menschen verstehen kann“ (GW 6, §412). Der Begriff der Relativität enthält die ganze Zweideutigkeit, die in dieser Angelegenheit notwendig ist, und erlaubt es Jung, mit den Instrumenten seiner eigenen wissenschaftlichen Methode das Gebiet der Theologie zu betreten. Die Doppelfunktion, von der Jung spricht, funktioniert als perfekte Analogie der doppelten Perspektive der menschlich-göttlichen Erfahrung, die für die christliche Theologie charakteristisch ist. Die Transitivität, die der doppelten Bewegung der Interdependenz innewohnt, macht eine absolute, metaphysische Vorstellung von Gott obsolet; andernfalls wäre es unmöglich, die unbewussten Inhalte als zur menschlichen Seele gehörig zu interpretieren, da sie von einem völlig anderen Außen abhängen würden, die sie beherrscht. Die Seele darf sich nicht von äußeren Objekten verführen lassen, von denen eines Gott wäre. Jung, der entschlossen ist, Eckharts „strenge psychologische Konzeption“ zu zeigen, liefert in seiner Studie zahlreiche Auszüge aus Eckharts deutschen Predigten, in denen wir sehen können, wie sehr der Wert der inneren Erfahrung betont wird. Wir sollten nicht vergessen, dass Eckhart dem Dominikanerorden angehörte, einer religiösen Gemeinschaft, deren grundlegende Tätigkeit das „Predigen“ war, was Techniken und Strategien der Exegese und des Kommentars zu der Bibel Texten beinhaltete. Die Einzigartigkeit des Stils, den Eckhart in seinen Predigten anwandte, liegt in dem, was Niklaus Largier eine „performative Hermeneutik“ nannte: Neben den Zitaten aus den Autoritäten der antiken Philosophen und Theologen enthielt der Kommentar einen direkten Stil, Gespräche in der wirklichen oder gegenwärtigen Zeit, die sich auf Zwischenrufe und Ausrufe stützen, die den Zuhörern eine ganze imaginäre Szenographie boten, die auf Bildern und Metaphern im Stil der Gleichnisse des Evangeliums beruhte. Diese Verwendungen der Sprache zeigen einmal mehr in der Geschichte der abendländischen Kultur die Macht der Bilder gegenüber der Ohnmacht der Theologie (Hans Belting). So beschreibt Eckhart im Gleichnis vom Himmelreich die menschliche Seele mit der Metapher des „verborgenen Schatzes“, und Jung seinerseits kommentiert: „Die Seele ist die Personifikation des Unbewussten. Im Ubewussten liegt der Schatz, das heißt die in der Introversion versenkte oder versunkene Libido. Dieser Libidobetrag wird als „Gottesreich“ bezeichnet.“ (GW 265 § 424)
Diese Introversion, die sich nun in der Seele befindet und die zuvor aus der Welt der äußeren Objekte kam, bestimmt das unbewusste Leben des Subjekts. Es ist also die Seele, die zwischen Gott und Mensch vermittelt, was Jung zu dem Schluss führt, dass für Eckhart die Seele das Ebenbild Gottes ist. Die Seele als Schöpferin von Symbolen und Bildern ist, so Jung, „selbst nur ein Bild“, ein Bild das der symbolische Ausdruck eines psychischen Zustands, eines Impulses, einer Inspiration ist, die in einem Energiestau aus dem Unbewussten geboren wird: eine Ansammlung von Libido, die Bilder aktiviert, die im kollektiven Unbewussten untergebracht wird.
Mir geht nun darum zu betonen, inwieweit dieser Bildbegriff, den Jung „imago Dei“ nennt[7], dem des dominikanischen Meisters entspricht, oder, um die oben für Kunstwerke verwendete Terminologie zu verwenden, inwieweit die beiden Vorstellungen eine ähnliche Struktur aufweisen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Seele als Bild immer ein Vermittler zwischen Gott und dem Menschen ist, oder in Jungs Sprache: “zwischen dem bewußten Subjetk und den dem Subjekt unzugänglichen Tiefen des Unbewußten” (GW, op. cit., S. 265, 425).
Die Vermittlungsfunktion ist entscheidend, um die gegenseitige Notwendigkeit erkennen zu können, die zwischen Gott und Mensch besteht und die so weit von der Vorstellung eines absoluten und völlig getrennten Gottes (wie es eine gnostische Gottheit sein könnte) entfernt ist. Die gegenseitige Abhängigkeit, die sich als gegenseitige Notwendigkeit manifestiert, stellt ein Verbindung her, das manchmal als eine Pflicht ausgedrückt wird, die Gott sogar dazu zwingt, in die menschliche Seele einzutreten: Dafür verwendet Eckhart das Bild der doppelten Geburt, von Gott in der Seele und von der Seele in Gott. Lesen wir ein Fragment, das zwar nicht zu den von Jung ausgewählten gehört, uns aber über dieses Thema aufklären kann: „es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders. Er muß es tun, es sei ihm lieb oder leid. Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlaß, und ich sage mehr noch: "er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur”[8]. Wir haben es mit dem Bild einer doppelten Geburt zu tun, deren Entstehungsort von Gott und Mensch geteilt wird und die die so genannte unio mystica illustriert. Die Not bindet Gott und Mensch in einem Zustand geistiger Armut und zwingt sie zu einer losgelösten Begegnung – Gelassenheit[9] ist einer der Eckhart´schen Begriffe, die sich durchgesetzt haben – an einem leeren Ort, was Eckhart mit dem Bild des Tempels als Metapher oder Symbol der Seele ausdrückt. Das Bild stammt aus einer Predigt, die die Stelle im Evangelium erläutert, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt, die Tiere und andere Gegenstände verkaufen: Für Eckhart muss der Tempel leer und frei von Waren sein, die Gott daran hindern, sein Haus zu betreten. Die Seele ist der Tempel, in dem Gott allein sein will, und er will, dass sie völlig frei von Gegenständen oder Götzen ist, die die Bilder von Gott sind, die wir uns selbst einbilden. Diese Leere der Seele wird auch als jungfräulicher Zustand beschrieben, der dennoch Frucht tragen muss: “Wenn nun der Mensch immerfort Jungfrau wäre, so käme keine Frucht von ihm. Soll er fruchtbar werden, so ist es notwendig, daß er Weib (wîp) sei. Weib ist der edelste Name, den man der Seele zulegen kann, und ist viel edler als Jungfrau”[10]. Die Fruchtbarkeit kommt vor der Jungfräulichkeit, denn ein leerer und freier, aber unfruchtbarer Ort ist, im moralischen Sinne verstanden, eine Sackgasse.
In seinen Predigten nennt Eckhart das Bild als „Bild ohne Bild“, das im Inneren geboren wird und das gleichfalls dasselbe Bild erzeugt: Ein Bild ohne Bild, ein Bild, das kein Bild oder eine Darstellung von irgendetwas ist, das nicht durch das Bild von irgendetwas Bestimmten begrenzt werden kann, sondern das selbst leer sein muss, um die Grundlage oder das Prinzip von allem zu sein, d.h. (das heißt) das, was Jung als „Archetyp“ definiert. Aus einem Brief an Pater Victor White (24. September 1948) erfahren wir, dass Jung die früheste Verwendung dieses griechischen Begriffs bei Philo von Judäa (1. Jh. V. Chr.) entdeckte, und nicht im Corpus hermeticum, wie er zuvor angenommen hatte. „Archetyp“ ist ein Begriff, der, wie Jung in Erinnerung ruft, auch im Werk von Dionysius dem Aeropagiten erscheint, jenem geheimnisvollen Theologen, der sich als Schüler des heiligen Paulus auf dem Areopag in Athen ausgibt. Von diesem wissen wir aber heute, dass er ein syrischer Mönch des 6. bis 7. Jahrhunderts war, dessen schriftliches Werk die erste systematische Formulierung der so genannten „mystischen“ oder negativen Theologie war.
Aus dem bisher Gesagten können wir schließen, dass Gott die leere Grundlage ist, das leere Modell, das als Vorbild für jedes andere Bild dient. Der „leere Archetyp“ – wie ich ihn von nun an nennen möchte – ist sowohl Gefäß als auch Übermittler, und diese doppelte Fähigkeit kommt ihm dadurch zu, dass er eine Leere ist, die nur die Leere trägt. Aber abgesehen von den offensichtlichen Analogien zwischen Jungs Psychologie und Eckharts Mystik, denke ich, dass eines der zentralen Interessen des Psychologen in seinem Denken über die Mystiker darin bestand, die schöpferische Fähigkeit der Seele, d.h. ihre poietische Dimension, hervorzuheben. Jung sagt: „Wenn […] Gott in der Seele ist, wenn also die Seele als Gefäß das Unbewusste auffaßt und sich zum Bilde und Symbol davon gestaltet, so ist dies ein glücklicher Zustand. […] der glückliche Zustand ist ein schöpferischer Zustand.“ (GW Band 6 §425). Diese Wahrnehmungsfunktion, die den Inhalt des Unbewussten aufnimmt, hat eine bildschaffende Funktion, und der erste Weg, sie zu nutzen, ist laut Jung die Kunst. Doch bevor ich auf die Kunst und ihre Bilder zurückkomme, möchte ich den schöpferischen Charakter der Sprache der Mystiker betonen, denn im Laufe der Jahrhunderte und mit dem Verfall des Predigtmodells, fand die schöpferische, bild- und symbolerzeugende Haltung, die Meister Eckhart praktiziert hatte, in anderen poetischen Modellen ein sehr reiches Ausdrucksfeld.
Gegen Ende des Kapitels über Meister Eckhart bringt Jung noch eine Reihe von Versen von Angelus Silesius (Spitzname von Johannes Scheffler), einem spirituellen Autor des schrecklichen 17. Jahrhunderts, der mitten im Religionskrieg (Dreißigjähriger Krieg) ein sehr eigenartiges Buch mit dem Titel: Cherubinischer Wandersmann[11] geschrieben hat. Dieses Buch greift im Wesentlichen die Postulate der deutschen Mystik auf, aber diesmal im kurzen und schillernden Stil der Epigramme. Betrachten wir nur einige von ihnen:
„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Wird ich zunicht, er muß den Geist aufgeben.“ (GW 6 § 432).
Diese „frommen Unverschämtheiten“, wie sie der Schweizer Theologe Karl Barth nannte, für die Gott etwas „ganz Anderes“ ist, etwas, das kein Begehren erreichen kann, hatten sich, wie wir oben gesehen haben, in den Beginengruppen und in den Frauenklöstern tatsächlich zusammengebraut. Frauen wie Marguerite Porete, Hadewij von Antwerpen, Beatrij von Nazareth oder Mechtild von Magdeburg bereiteten eine neue Art von Gotteserfahrung vor, die Theologen wie Eckhart, Tauler und Seuse, um nur die deutschsprachigen zu nennen, zu verbreiten halfen. Es gibt einen dünnen Faden, der von der deutschen Mystik zu den Philosophen des zwangzigsten Jahrhunderts führt : Im fünfzehnten Jahrhundert durch Nikolaus von Kues, im sechzehnten Jahrhundert durch Jacob Böhme und Valentin Weigel und Luther selbst, und im neunzehnten Jahrhundert zu Schopenhauer und, näher an uns, zu Heidegger und Derrida. Aber dieser „internationale Mystik“, wie Kolakowski ihn nannte, ist nicht nur eine nordeuropäische Angelegenheit: Die Weitergabe solch radikaler Ideen geht bis in die südlichen Länder hinunter und verschmilzt schließlich mit den mystischen Strömungen des Judentums und des Islams auf der Iberischen Halbinsel. Die Idee, dass Gott das Nichts und die Leere ist, erreichte über die Metapher der „dunklen Nacht“ den Heiligen Johannes von Kreuz, der die lateinische Übersetzung der Predigten von Johannes Tauler gelesen hatte. Die spanische Mystiker und Dichter, wie Johannes von Kreuz und Teresa von Avila, legten den Grundstein für eine neue, psychologisch geprägte Interpretation der inneren Gotteserfahrung. Ihre Spuren finden sich zum Beispiel in der Dichtung von T.S. Eliot oder auch in den Seminaren von Lacan. Das Erbe der europäischen Mystik kann die sogenannte „Gottlose Mystik“ von Fritz Mauthner (bekannt als der Buddha von Konstanz) oder die „mystique sans Dieu“ von Paul Valéry nicht ausschließen. Aber die Verbindung, die von der Mystik zum modernen Atheismus führt, ist im Denken von Nietzsche zu finden, einem weiteren Schwerpunkt von CGJ, der ihm eines seiner umfangreichen englischsprachigen Seminare zwischen 1934 und 1939 widmete.
Sowohl die europäische mystische Tradition als auch der westliche Nihilismus haben trotz signifikanter Unterschiede, vor allem in ihren historischen und kulturellen Kontexten, ein gemeinsames Denkfeld, das nicht zu umgehen ist. Beide Denkströmungen agieren trotz ihrer Unterschiede gegen den Gegenbewegung, distanzieren sich von scholastischen Dogmen und reagieren nicht auf irgendeine Schuld gegenüber der Tradition, die ihnen vorausgegangen ist, weil sie sich als etwas Neues und Erneuerndes des Geistes präsentieren. Die Sprache, derer sie sich bedienen, ist die der Negativität, denn sie ist die einzige Sprache, die es ihnen erlaubt, die Unmöglichkeit, mit der sie konfrontiert sind, zu umgehen, sei es durch Paradoxie oder explosive Metaphern (Blumenberg). Eckhart und seine Schüler riskieren sich in der Praxis einer Spiritualität der Gelassenheit, für die das einzig mögliche Bild das einer Gottheit ist, die leer ist und deren Attribute vernichtet sind; Nietzsche und die Philosophen der Kyoto-Schule - allen voran Shizuteru Ueda, der in deutscher Sprache über Eckhart und den Zen-Buddhismus promoviert hat - unterstützen kein Gottesbild, das nicht das Ergebnis der Entleerung seiner theologischen Inhalte ist, sei es von der Metapher des "Todes Gottes", sei es von der als Šūnyatā, d.h. "Leere" (auf Englisch „Emptiness“), verstandenen Wirklichkeit. Ich weiß nicht, inwieweit Jung spüren konnte, dass es sowohl bei den Mystikern als auch im modernen Nihilismus eine Grundlage für das Verständnis einer imago dei gibt, die als ein "anderer Ort" verstanden wird, der in der Tat die Grundlage für die Geburt einer wirklich neuen Persönlichkeit (eines "Ich") ist. Die Frage nach den Gemeinsamkeiten zwischen Mystik und Atheismus ist ein Thema, das wir jetzt nicht weiter verfolgen können, zu dem die Psychologie aber meiner Meinung nach viel zu sagen hätte[12].
3. Zeitgenössische Variationen des "leeren Archetyps" in der Kunst (Abb.8)
Abbildung 8: Stundenbuch, Bonne de Luxembourg c. 1340-49
Das bisherige Verständnis der imago dei als "leerer Archetyp" (nicht als Archetyp der Leere, einer unter anderen, sondern als das wirklich Ursprüngliche, Archetypische) erlaubt es mir, Jungs Psychologie an einem historischen Scheideweg zu stellen, an dem eine neue Kunst entstand, die nicht nur eine neue ästhetische Erfahrung darstellte, sondern auch zur geistigen Erneuerung der westlichen Kultur beitragen wollte. Bereits im Rahmen der ersten europäischen Avantgarde Bewegungen, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, öffneten sich Maler wie Kandinsky, Malewitsch und Mondrian für eine Untersuchung im Bereich der bildlichen Entstellung und Abstraktion, als Folge der Krise des Naturalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Dies entsprach zwar einer Suche nach den wesentlichen Strukturen des menschlichen Bewusstseins, mit der sich sowohl die Freud’sche Psychoanalyse als auch die Phänomenologie von Edmund Husserl bereits beschäftigten. Doch erst mit dem Aufkommen des amerikanischen "abstrakten Expressionismus" in den 1930er Jahren griffen die neuen Künstler die Gedanken von CGJ auf.
Obwohl die meisten Bücher, die Jung bis zu diesem Zeitpunkt geschrieben hatte, auf Englisch übersetzt und veröffentlicht worden waren - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass analytischen Psychologen bereits in den späten 1930er Jahren in Amerika aktiv waren - wurde 1943 der Kunstkritiker Herbert Read zum Herausgeber der Ausgabe ausgewählter Werke von CGJ. Die amerikanische Kunstkritikerin Dore Ashton behauptet, dass in 1940 die Präsenz von CGJ in den intimen Tagebüchern von Künstlern wie Jackson Pollock, Barnet Newman, Robert Motherwell oder Mark Rothko offensichtlich war, vor allem die Idee einer "ursprünglichen Kunst", und dass zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit bestand, die künstlerische Erfahrung als visionär und nicht nur als psychologisch zu verstehen. Konzepte wie "archetypisches Bild" oder "kollektives Unbewusstes" mussten auf diese Künstler einen großen Eindruck gemacht haben, der sich unmittelbar in einem malerischen Ausdruck niederschlug. Es stimmt, dass dem Interesse der Künstler an der analytischen Psychologie die Lektüre von Anthropologen wie Lucien Levy-Bruhl und Emile Durkheim vorausging, deren theoretische Arbeiten eine Art "psychischen Primitivismus" erkennen lassen, der mir der malerischen Plastizität von Joan Miró und sogar der der surrealistischen Künstler sehr nahe zu sein scheint. Levy-Bruhl, ein von Jung in seinen Schriften erwähnter Autor, war überzeugt, dass das primitive Denken, das er als "prä-logisch" bezeichnete, im Gegensatz zum modernen Denken einen mystischen Charakter hatte, was für den französischen Anthropologen einen Glauben an unpersönliche Kräfte bedeutete, die der moderne Mensch nicht wahrnehmen kann. Diese Tendenz, eine dunkle Seite, oder Schatten, in unserem Leben anzunehmen, ist diejenige, die seit den Anfängen der Psychoanalyse die Haltung der Geisteswissenschaften, aber auch der modernen Kunst geprägt hat.
Es sei darauf hingewiesen, dass die Annäherung der amerikanischen Künstler an die analytische Psychologie von einem ungewöhnlichen Interesse an den Kulturen der amerikanischen Ureinwohner und insbesondere an allem, was mit dem "rituellen Prozess", wie Van Genepp es nannte, und ganz allgemein mit den Mythen der Antike zu tun hatte, begleitet wurde. So diskutieren Rothko und Gottlieb am 13. Oktober 1943 in einer Radiosendung mit dem Titel "Art in New York" über eine aktuelle Gruppenausstellung:
"Unsere Titel erinnern an die bekannten Mythen des Altertums; wenn wir sie wiederverwendet haben, dann deshalb, weil sie ewige Symbole sind, zu denen wir zurückkehren müssen, um grundlegende psychologische Ideen auszudrücken. Es sind die Symbole der Urängste und Motivationen des Menschen, unabhängig davon, an welchem Ort und zu welcher Zeit er gelebt hat, die sich nur im Detail, aber nie im Kern ändern, ob griechisch, aztekisch, isländisch oder ägyptisch. Und die moderne Psychologie findet sie fortdauernd in unseren Träumen, in unserer vertrauten Sprache und in unserer Kunst, trotz aller Veränderungen in den äußeren Bedingungen des Lebens"[13].
Es sollte auch bedacht werden, dass die Idee des Archetyps diesen Malern nicht direkt begegnet sein mag, sondern durch das Konzept des "Monomythos", das Joseph Campbell 1949 in seinem Buch „The Hero with a Thousend Faces“ [Der Heros in tausend Gestalten“] verwendete. Aber im Allgemeinen war ihnen allen klar, dass "die Mythologie, in CGJs Worten, das Lehrbuch der Archetypen" war.
Rothkos erste bedeutende Phase, die unter dem Begriff "Multiformen" bekannt ist, zeugt von dieser Suche nach einer ursprünglichen oder universellen Form jenseits kultureller Unterscheidungsmerkmale. Inspiriert vor allem durch die Lektüre von Die Geburt der Tragödie (Abb.9)- ein Buch, das der junge Nietzsche in seinen frühen Jahren als Professor an der Universität Basel verfasste - und damit durch die Forderung nach dramatischer Kunst, aber auch begleitet von griechischen Tragikern, insbesondere Aischylos, tauchte der Künstler in die Welt der Mythen ein. Gemälde wie Antigone und Ödipus (Abb.10-11) drücken die Beschäftigung mit dem Thema des Leidens und der Verbindung mit den kosmischen Kräften aus, die das menschliche Schicksal bestimmen. Einer der Aspekte, der ihn ab den 1930er Jahren am meisten beschäftigte, war jedoch das Thema der rituellen Opferung einer Gottheit. Die Geschichte von Dionysos, der von den Mänaden zerstückelt wird, und der anschließenden Wiederherstellung des Körpers des Gottes, die Zeus dem Hephaistos befiehlt, ist wohlbekannt und verweist auf die Idee der kosmischen Erneuerung in Mysterien Kulten. Interessant ist, wie Rothko sich in der plastischen Entstellung der menschlichen Figur übte – in dieser Hinsicht von den europäischen kubistischen Malern beeinflusst - bis zu ihrem völligen Verschwinden, indem er einen Weg der Abstraktion einschlug, der zunächst in den so genannten "Sectionals" (Abb.12) der 1950er Jahre und dann, in der letzten Phase seines Lebens, in der Dunkelheit der großen monochromen Leinwände oder den so genannten "Dark Paintings" zum Ausdruck kam (Abb.13).
Abbildung 9: Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Friedrich Nietzsche, Leipzig
Abbildung 10: Mark Rothko, Antigone
Abbildung 11: Mark Rothko, Oedipus
Abbildung 12: Mark Rothko, "Sectionals"
Abbildung 13: Mark Rothko, "Dark Painings"
Ich verstehe den Übergang von der Entbildung zur Abstraktion als einen Prozess, der parallel zur Ausübung der Fragmentierung des Körpers verläuft, die für rituelle Opfer charakteristisch ist, und der in einer mystischen Religion endet, in der der Körper ausgelassen wird[14]. Plastische Entstellung und Fragmentierung des Körpers auf der einen Seite und Entbildung (oder) Abstraktion und Mystik auf der anderen Seite definieren meiner Meinung nach die strukturelle Ähnlichkeit zwischen zwei Gruppen von Konzepten: Die eine aus der Kunst und die andere aus der religiösen Anthropologie, die das Bedürfnis nach Loslösung der Seele sowie nach Verinnerlichung oder nach einer Reise in die Tiefen des Unbewussten ausdrücken.
Auf diesem Weg des Abstiegs in die Tiefe wird Rothko, ähnlich wie andere Mystikerinnen und Mystiker der christlichen Tradition, eine besondere Form des negativen Weges finden, dessen zentrale Metapher weiterhin die Dunkelheit sein wird, ein Symbol, das auf den Theologen Gregor von Nyssa in seinem Leben des Moses zurückgeht, wenn er von der Begegnung des Propheten mit der dunklen Wolke der Gottheit schildert, das aber in der gesamten christlichen Tradition zu finden ist, ausgedrückt in den Bildern des "Blitzes der Finsternis" (Dionysius der Areopagit) oder der "dunklen Nacht" in der Dichtung des Johannes vom Kreuz. Als ich mich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Rothkos Werk beschäftigte, wurde mir bewusst, wie sehr die Verwandlungen, die ein Bildwerk im Laufe des Lebens seines Schöpfers durchläuft, den rituellen Prozessen in den alten Religionen und der mystischen Literatur ähneln. Es geht nicht so sehr darum zu zeigen, wie sich ein Wissensgebiet auf das andere auswirkt - was andererseits sehr nützlich ist und der Untersuchung Genauigkeit verleiht -, sondern vielmehr darum, zu erkennen, dass Kunst und Religion über die "verschiedenen Verwendungen der Sprache" (Wittgenstein) hinaus eine gemeinsame Grammatik haben.
So war ich nicht überrascht, als ich erfuhr, dass Rothko Gespräche über den Ausdruck „dissolving into nothingness“ ["sich ins Nichts auflösen"] geführt hatte, wie mir Henk W. van Os, Kunsthistoriker an der Universität Amsterdam, selbst mittgeteilt hatte. Aber die Tatsache, dass Rothko auf seinen Reisen nach Italien die Wandmalerei der Fresken von Pompeji (Abb.14) und das Werk von Fra Angelico (Abb.15) entdeckt hatte, oder dass der italienische Filmregisseur Michelangelo Antonioni (Abb.16) in Rothkos Werk Affinitäten zu seinen Filmen "La Notte" und "Il deserto rosso" gesehen hatte, bestätigt nur, dass strukturelle Ähnlichkeiten eine Art und Weise sind, eine bestimmte Idee des Archetyps zu verstehen und auszudrücken, dessen wesentliches Merkmal die Leere, das Nichts oder die Dunkelheit ist, als Symbole oder Metaphern für eine tiefe Erfahrung der Introspektion.
Abbildung 14:
Villa dei Misteri, II-I v. Ch.
Abbildung 15:
Fra Angelico, San Marco, Firenze.
Abbildung 16:
Michelangelo Antonioni, Il desserto rosso, 1964
Und doch ist trotz der Ähnlichkeiten jedes Leben einzigartig und jeder Weg des Eintauchens in die Dunkelheit anders. Wie CGJ in seinen Seminaren über Zarathustra erläuterte, starb Nietzsche früher an seinem Körper als an seinem Geist: Der Zustand der Dunkelheit, in den er fiel, kam vor dem Verlust seiner körperlichen Fähigkeiten. Im Fall von Rothko, einem Bewunderer Nietzsches, wurde das Eintauchen in die Dunkelheit seiner letzten Werke von Krankheit und Depression begleitet. In Berücksichtigung auf seine "Dark Paintings" (Abb.17) hat ein geachteter Kritiker wie David Anfam (Abb.18) argumentiert, dass die hohe Kreativität des Künstlers aus einer einzigartigen Beziehung zwischen Melancholie, Vision und Dunkelheit[15] entstand. In Anlehnung an die psychoanalytischen Überlegungen von Julia Kristeva glaubt der Kunstkritiker zu ahnen, dass der Maler, eine für den Philosophen charakteristische verdüsterte und verschlungene Haltung in der Nacht des Denkens, eine morbide Haltung hatte. Tatsächlich verbrachte der kranke und alkoholkranke Rothko die letzten Jahre seines Lebens in depressiven Phasen, die ihn schließlich 1970 in den Selbstmord trieben, genau in dem Jahr, in dem die Rohtko Chapel eingeweiht wurde, deren Bilder wir zu Beginn meines Vortrags gesehen haben. Die Art und Weise, in der das Leben Rothkos Werk mit Dunkelheit erfüllt, ist analog zu der Art und Weise, in der das Werk letztendlich das Leben des Künstlers verdunkelt. Der Unterschied besteht darin, dass das Werk in der Regel am besten ausdrückt, was das Leben und die Welt sind, und nicht andersherum. Das Werk ist das, was zählt, denn die Undurchsichtigkeit des Lebens ähnelt in diesem Fall der Undurchsichtigkeit der Welt, und um irgendetwas über das Werk zu verstehen, kann ich nicht mit einer der beiden Undurchsichtigkeiten beginnen, sondern komme zu ihnen durch die Dinge, die sie verursacht haben. Obwohl es gewichtige Gründe gibt, einen Zusammenhang zwischen Melancholie, Vision und Dunkelheit festzustellen, zögere ich zu glauben, dass ein authentisches Kunstwerk wie das von Rothko nur aus einem klinischen Bild heraus erklärt werden kann. Die schöpferische Fähigkeit des Menschen geht, wie der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers bereits untersucht hat, in vielen Fällen mit schwierigen psychischen Bedingungen einher, was die Realität des poetischen Lebens des Künstlers nicht überzeugend erklärt. Das schöpferische Element ergreift uns immer wieder und überrascht uns aufs Neue. So sehen wir zum Beispiel in den Gemälden der letzten Jahre, wie sich trotz der totalen Dunkelheit der Monochromie (Rothko Chapel: Abb.19) die beiden Ebenen des Bildes als ein Bild aufdrängen, das die beiden Dimensionen des Bewusstseins ausdrückt: das Bewusste und das Unbewusste (Abb.20).
Abbildung 17: Rothko, Dark Paintings, 1970
Abbildung 18:
Hans Namuth, “Rothko in his Studio”, New York,1964
Abbildung 19:
Rothko Chapel, University of St. Thomas, Houston (1971)
Abbildung 20:
Rothko Chapel, Untitled, 1966
Die Suche nach dem "leeren Archetyp" (Abb.21) ist die Suche nach einem idealen Modell, einem Ort der Versöhnung der Gegensätze, des Lichts und der Dunkelheit, des Persönlichen und des Unpersönlichen, eine Erwartung, deren Unmöglichkeit uns nicht aufhalten sollte, denn vielleicht geht es nicht so sehr darum, die Unbegreiflichkeit des Mysteriums zu verstehen, sondern vielmehr darum, Zeugnis von seiner Anwesenheit oder von der Tatsache dieser Unmöglichkeit abzulegen, die in der mystischen Sprache als "das Unaussprechliche" bezeichnet wird. Die Darstellung des Unaussprechlichen, des leeren Archetyps, ist das schwarze Quadrat (Abb.22), eine Unmöglichkeit: Dort gibt es scheinbar nichts zu sehen außer unser in der Dunkelheit gespiegeltes eigenes Bild. Und in der Zwischenzeit erscheint die Vermittlung, die Horizontlinie, die die eine Welt von der anderen trennt und Bilder und Symbole hervorbringt, die uns auf dem Weg der Introspektion begleiten (Abb.23).
Abbildung 21:
Plan of the Rothko Chapel, Houston
Abbildung 22:
Robert Fludd, 1574-1637
Abbildung 23: Mark Rothko, Untitled, 1970
Ein dunkles Gemälde ist ein leerer Archetyp, weil es als ursprüngliches, universelles Bild, sich von jedem persönlichen Inhalt befreit hat. Ein für sich ist es in sich selbst nichts und kann daher alles in sich aufnehmen, um es neu zu gebären. Wie die Archetypen in einem Moment der Krise entstehen, so entsteht die abstrakte Kunst in einem Moment der spirituellen Krise und bietet eine radikale Antwort, deren Vorläufer in den vorangegangenen ikonoklastischen Krisen der Geschichte zu sehen sind (Byzanz, die Reformation usw.), denn der Exzess der Bilder ist nichts anderes als ein Exzess in der Natur der Darstellung des ursprünglichen Archetyps, eine Usurpation der losgelösten und freien Natur des Ortes der Transformation und der neuen geistigen Geburt. Wenn ich zu Beginn meiner Ausführung die Gemeinsamkeiten in der formalen Struktur verschiedener Kunstwerke hervorgehoben habe, so deshalb, weil ich in dieser strukturellen Ähnlichkeit ein ähnliches Spannungsfeld sehe, wie es auch zwischen der Welt des Bewussten und des Unbewussten auftreten kann. Wenn es einen Dialog zwischen beiden Dimensionen der menschlichen Psyche gibt, dann deshalb, weil die Bereiche der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit eine Transitivität zwischen den beiden Polen ermöglichen, die zwar unterschiedlich, aber übereinstimmend sind. Aus philosophischer Sicht ist die formale Ähnlichkeit (Rosenblum) der Rahmen, der es uns erlaubt, die Inhalte des Bewusstseins zu definieren, die nicht wie ein Sturm umherziehen können, sondern in einem stürmischen Meer voller Ungeheuer, aber mit Ufern und Küsten, enthalten sein müssen. Die Sprache, die die Transitivität zwischen den beiden Welten ermöglicht, erfordert eine Vielzahl von Darstellungen oder Symbolen, selbst wenn der Hintergrund, aus dem sie entstehen, ein leerer, abstrakter Hintergrund ist. Mark Rothko sagt in einer seiner letzten Schriften:
"Wie die antike Idee von Gott kann auch die Abstraktion selbst in ihrer Nacktheit nie direkt erfasst werden. Wie im Fall von Gott können wir seine Erscheinungsformen nur aus Werken kennen, die, obwohl sie die Abstraktion als Ganzes nie vollständig offenbaren, sie durch die Manifestation ihrer verschiedenen Gesichter in Kunstwerken symbolisieren. Die Schönheit zu empfinden bedeutet also, durch ein bestimmtes Medium an der Abstraktion teilzuhaben. In gewissem Sinne handelt es sich um eine Reflexion über die Unendlichkeit der Wirklichkeit. Wenn wir die Erscheinung der Abstraktion selbst kennen würden, würden wir ständig nur ihr Bild reproduzieren. Was wir haben, ist die Manifestation der unendlichen Vielfalt ihrer unerschöpflichen Gesichter, für die wir dankbar sein sollten.[16]"
Der Unterschied zwischen der Struktur des Formats von Rothkos Gemälden in der Houston-Kapelle und dem Thema oder Inhalt der Werke beschreibt diese Situation sehr gut. (Abb.24) Eine Masse dunkler Farbe innerhalb rationaler Grenzen, die den Leinwänden entsprechen, aber ohne Rahmen. Der in diesen Gemälden enthaltene Sturm geht nicht über die Grenzen der Darstellung hinaus, denn ohne sie wäre der Sturm selbst nichts, er wäre nur unsichtbar. Aber die Abstraktion ist nicht der einzige Weg, nicht einmal ein privilegierter Weg für die Darstellung des leeren Archetyps. Andere Künstler, die uns zeitlich näherstehen, wie der anglo-indische Bildhauer Anish Kapoor (Abb.25), haben die großen Intuitionen der Mystik treffend zum Ausdruck gebracht. In seinem Werk When I am pregnant (Wenn ich schwanger bin) sehen wir auf einer weißen Wand eine Auswölbung, die unsere Aufmerksamkeit stark erregt, weil sie einem Bauch im Zustand der Schwangerschaft ähnelt. Dieses Kunstwerk erinnert mich an eine Predigt von Meister Eckhart, in der er die Vision des heiligen Paulus auf dem Weg nach Damaskus kommentiert, gemäß der Stelle in der Apostelgeschichte (9,8), in der es heißt: "Paulus stand auf der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts". Eckhart widmet sich der Exegese dieser Stelle, um die beste Interpretation des Wortes "nichts" zu finden.
Abbildung 24:
Rothko Chapel, Untitled, 1966
Abbildung 25:
Anish Kapoor, When I am Pregnant, 1992
Ich zitiere einen kurzen Auszug:
"Es deuchte (einmal) ein Mensch wie in einem Traume - es war ein Wachtraum -, er würde schwanger vom Nichts wie eine Frau mit einem Kinde, und in diesem Nichts ward Gott geboren; der war die Frucht des Nichts. Gott ward geboren in dem Nichts. Daher spricht er (Paulus): Er stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts"[17]
Wir haben oben bereits gesehen, inwieweit das Nichts und die Leere sozusagen homöomorphe Begriffe sind, d.h. sie haben dieselbe formale Struktur, aber sie entsprechen auch den sprachlichen Bedürfnissen einer Grenzerfahrung, für die es kein Subjekt gibt. Denn sowohl in der mystischen Erfahrung als auch in den plastischen Werken von Rothko oder Kapoor hat sich das schöpferische Subjekt zurückgezogen, hat die Bühne verlassen, in der Überzeugung, dass sein Werk nicht sein eigenes ist, sondern das eines Anderen, das ihn durchquert hat, ihn vernichtet hat und sich durch ihn ausdrückt (in deutlicher Anlehnung an das, was in der Tradition als mors mystica bezeichnet wird).
Der leere Archetyp ist der mystische, stille Archetyp, dessen abstrakte Sprache, die durch das NICHTS Gottes gekennzeichnet ist, unweigerlich einen introspektiven Blick erfordert, durch den wir in der menschlichen Seele die Geburt des Wirklichen erkennen.
[1] Mark Rothko, Writings on Art, Yale University Press, New Haven and London, 2006, pp. 119-ss.
[2] Robert Rosenblum, Modern Painting and the Northern Romantic Tradition. Friedrich to Rothko, Thames and Hudson, London, 1975.
[3] Siehe, Alois M. Haas, Gottleiden-Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1989, SS. 59-96.
[4] Siehe, Michel de Certeau, La fable mystique, 1, XVI-XVII siècle, Gallimard, Paris, 1982, SS. 107-127
[5] Ich leihe mir diesen Begriff von Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (Gesamtausgabe, Band 60), Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1995, S. 206
[6] Carl G. Jung, Gesammelte Werke, Band 6, Paragraph 411.
[7] Siehe, James W. Heisig, Imago Dei. A Study of C.G. Jung’s Psychology of Religion, Bucknell University Press, London, 1983.
[8] Meister Eckhart, Werke I. Texte und Übersetzungen von Josef Quint. Herausgegeben und kommentiert von Niklaus Largier, Deutscher Klassiker Verlag, 1993, S. 86.
[9] Siehe, Werner Beierwaltes, Fussnoten zu Plato, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, SS. 389-425.
[10] Meister Eckhart, Werke I, S. 27
[11] Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, Herausgegeben von Louise Gnädinger, Stuttgart, Reclam, 1985.
[12] Siehe, Alois M. Haas, Offene Horizonte. Gott, Engel, Mensch (bes.: “Gott im Zwiespalt zwischen Verehrung (Mystik) und Bestreitung (Atheismus), Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg i. Br., 2019, SS. 11-47.
[13] Rothko, Writtings, op. cit., S. 39
[14] Cf. Amador Vega, Tentativas sobre el vacío. Ensayos de estética y religión, Fragmenta, Barcelona, 2022.
[15] David Anfam, Mark Rothko. The Works on Canvas. Catalogue Raisonné, Yale University Press, New Haven and London, 2007, SS. 65-77
[16] Mark Rothko, The Artist’s Reality. Philosophies of Art, Yale University Press, New Haven and London, 2004, 64-65.
[17] Meister Eckhart, Werke II, S. 73